Es war 2010 und wir brachen im Frühjahr dieses Jahres auf, nach Indien, zu Fuß, auf dem Landweg. Wir – das sind Marcel und Marlon Stawinoga, zwei Brüder aus Buer, aus dem Ruhrgebiet, wo wir aufwuchsen, wo unsere Geschichte begann, wo diese Geschichte beginnt.
„Warum zu Fuß?“, wurden wir häufig gefragt. Warum denn nicht? Wir hatten doch alle Zeit der Welt. Muss es nicht ein wunderbares Gefühl sein, der Zeit und anderen gesellschaftlichen Zwängen entflohen, in die Tage hinein zu leben, mit einem klaren Ziel vor Augen? Unser Ziel war Indien.
Ich bin Marcel und ich schreibe ein Buch; ein Buch über Freundschaft und Willensstärke, ein Buch vom Glück, ein Buch von einer körperlichen Reise, ein Buch – vor allem – von einer geistigen Reise, ein Buch von unterwegs, ein Buch, welches einen Weg aus Babylon sucht, ein Buch, für welches ich Inspiration suchte. So beschlossen wir auf dem Landweg nach Indien zu reisen – zu Fuß, mit dem Bus, mit dem Zug, so wie es eben kommen sollte.
Es war Sommer 2009, als ich endgültig den Entschluss fasste für längere Zeit nach Indien aufzubrechen, nachdem ich bereits seit Jahren mit diesem Gedanken gespielt und mich nach diesem Land, dessen Süden ich in Kerala bereits 2006 besucht hatte, sehnte. Indien war seither wie eine Geliebte, welche ich nicht wieder vergessen konnte. Mein Geist sehnte sich nach dieser Geliebten, danach all ihrer Spiritualität und all ihrer Mythen verführt zu werden. Denn zurückkehren konnte ich nur noch nach Babylon.
Und in Babylon war es mein Geist, welcher sich gefangen fühlte. Wie ein Vogel gefangen in einem Käfig, der Tag für Tag ein Lied singt, eine zu Liebende lockend, suchte ich im Hinduismus, in Schriften, im Schreiben, in Gebeten, in Meditation und Enthaltsamkeit meinen Geist zu befriedigen. Doch der Wunsch nach Indien zurückzukehren – dort einen Ausweg erhoffend – wurde zunehmend stärker, dass ich spürte, diesen Weg gehen zu müssen. So kündigte ich im August 2009 meine Wohnung, packte meine Sachen und zog mit meinen Vögeln und Schaben in die Laube im Garten meiner Mutter, wo ich jene Reise vorbereiten sollte.
Und hier beginnt unsere Reise; in jenem Haus, auf dessen Boden wir das Laufen lernten, wo wir lachten, so viel Liebe empfingen, wo wir stritten und weinten, in dessen Garten wir spielten, dort wo wir sprechen, lesen und schreiben lernten, dort wo unsere Geschichte begann, dort beginnt diese Reise.
Als ich meinem Bruder von meinem Vorhaben berichtete, war mir bereits klar, dass er mich begleiten würde. „Erst such dir einen Gefährten, dann erst begib dich auf die Reise“ heißt es in einem fernöstlichen Sprichwort. Ich könnte mir keinen besseren Gefährten vorstellen, denn in der Tugend der Treue, ist er mir gewiss der Eifrigste.
So brachen wir am 15. April 2010 in Buer auf und sollten das Haus unserer Mutter für eine lange Zeit nicht wiedersehen. Wir wurden um 10 Uhr am Gelsenkirchener Zoo, der ZOOM Erlebniswelt Gelsenkirchen, erwartet und standen dort – in der erst Anfang März eröffneten Asien-Halle – Pressevertretern Rede und Antwort. Unser Motto an dieser Stelle lautete: von Asien nach Asien. Gegen 12 Uhr brachen wir dann schließlich auf Richtung Ruhr, um diese auf Höhe der Burg Blankenstein in Hattingen zu erreichen. Dann folgten wir diesem namengebenden Fluss bis zu seiner Quelle im Rothaargebirge, ehe wir Richtung Donau aufbrachen, um dieser durch Österreich über Bratislava bis Budapest in Ungarn zu folgen. Schließlich führte uns der Weg durch Rumänien, Bulgarien und Griechenland bis an das Mittelmeer. Wir nahmen Kurs Richtung Türkei, gingen über den Bosporus und betraten in Istanbul asiatischen Boden. Dann hielten wir uns an die türkische Schwarz-Meer-Küste, ehe wir in Trabzon Richtung iranische Grenze zogen. An der Grenze zum Iran warteten Mitte September zwei Freunde auf uns, Behrooz Kasraei und sein Sohn Amir, welche uns nach Teheran führten. Zu diesem Zeitpunkt waren wir 157 Tage unterwegs und hatten 3.688.488 Schritte getan. Da wir keine Visa für Pakistan erhielten, waren wir gezwungen in Teheran in ein Flugzeug zu steigen, sodass wir auf diese Weise Indien in Delhi erreichten.
Von Delhi aus führte uns der Weg nach Haridwar, wo der Ganges in die Ebene eintritt und Rishikesh, jene Städte, wo Fleisch, Eier und Alkohol verboten sind – welche der bekanntesten hinduistischer Pilgerstätten. Von dort aus strebten wir die heiligen Orte im Himalaya, Gangotri und Gaumukh, die Quelle des Ganges, an. Dem Ganges folgten wir schließlich bis Kalkutta.
In Kalkutta verweilten wir ein wenig, in der Stadt der Göttin Kali, jene, welche ihre Hand schützend über die Dichter und Schreiber legt. Wir besuchten die College Street – das intellektuelle Herz Indiens und ihre drei Universitäten; erblickten die weißen Säulen der Calcutta University. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es mehr Bücher als auf dieser Straße und ihren unzähligen abzweigenden Gassen. Man spricht von mehr als zehntausend Buchläden und über dreitausend Verlegern in diesem Viertel. Hier wünschte ich zu schreiben; hier wollte ich den Tempel der Saraswati aufsuchen – die, welche die Schrift erfand, Göttin der Weisheit, des Intellekts, der Musik, der Gelehrsamkeit, der Sprache und der Poesie ist – darum bitten, mich reich zu beschenken, mit einem klaren und frischen Geist und guten Ideen.
Wir saßen im Indian Coffee House, wo seit Jahrzehnten Bücher geschrieben, gelesen und diskutiert werden; wo einst die bengalische Studentenrevolution ihren Ursprung fand.
Wir ließen die Stadt auf uns wirken, in Kalkutta begann ich zu schreiben; mein Buch; meine Geschichte von Deutschland nach Indien, von Buer nach Kalkutta – eine Reise von tausenden Kilometern, eine Reise, welche noch nicht zu Ende ist.